Kinderreiche Familien in Pandemiezeiten
"Ein wahrer Kraftakt"
Wo ist das Ladekabel? Unruhe und Hektik am Esszimmertisch. Gleich die nächste Video-Konferenz. Mathe. Da stimmt ohnehin nur ein Teil der Ergebnisse. Die elfjährige Antonia setzt den Hörer auf, versucht das Geschrei des kleinen Bruders, der gerade unbedingt auf einen warmen Kakao besteht, auszublenden. „Hat jemand meinen Playmobil-Indianer gesehen?“ Der sechsjährige Benedikt steht am Tisch, fordert eine Antwort ein. Er fragt noch einmal, diesmal lauter. Man kann ihn nicht ignorieren. „Hier – und dann verschwinde!“, fährt die große Schwester ihn an und kramt die Figur zwischen Bergen von Büchern und Heften hervor. Im nächsten Moment sitzt sie wieder über ihren Spanisch-Aufgaben, versucht erneut, Anschluss zu finden an das, was sie in den letzten Momenten versäumt hat. „Bin wieder da“, sagt sie genervt ins Mikro.
Ein Blick auf die Uhr – Mittagessen müsste längst vorbereitet sein, die Wäsche könnte auch mal jemand aufhängen, außerdem schnell durch saugen und grob Ordnung schaffen. „Die Belastung derzeit ist extrem hoch“, sagt Mutter Friederike. „Als Eltern versucht man einerseits die Kinder im Homeschooling zu unterstützen, technische Pannen zu beheben, inhaltliche Fragen zu beantworten – und dann ist da natürlich der Haushalt einer großen Familie, den es zu bewältigen gilt.“ Wenn alle daheim sind, falle nicht nur mehr an, sondern bleibe auch insgesamt mehr liegen. „Nie kann man lange bei einer Sache bleiben: Man muss sich mit einzelnen Lehrern auseinander setzen, die zum Teil trotz der Ausnahmesituation keinerlei Erbarmen mit ihren Schülern haben, ständig formuliert man irgendwelche Mails, versucht zu erklären und Druck raus zu nehmen, den Kindern mit ihren Sorgen zuhören – denn sie können abends schon nicht mehr richtig abschalten, da sie ständig das Gefühl haben, etwas vermeintlich Wichtiges verpassen zu können und umgehend reagieren zu müssen.“
Das alles, so die 42-Jährige, strenge unglaublich an und belaste die ganze Familie. Wenn die Kinder abends im Bett lägen, sei noch lange nicht das Nötigste geschafft, ebenso wie an den Wochenenden, an denen Liegengebliebenes aufzuarbeiten sei, anstatt sich Erholung zu gönnen. „Solche Phasen hat man als Großfamilie immer mal wieder – aber der Stress, den wir pandemiebedingt erleben, ist einfach unvergleichlich; wir stehen alle unter einer Art Dauerstrom“, beschwert sich die Mutter von fünf Kindern. „Ich verstehe nicht, warum sich die Schulen in dieser besonderen Situation nicht auf das Wesentliche, die Hauptfächer, konzentrieren und statt dessen den Stundenplan 1:1 auf den Bildschirm übertragen, auf eine Online-Anwesenheitspflicht bestehen und zum Teil fragwürdige Arbeitsaufträge ausgeben – das kann doch nicht zielführend sein und ist schlichtweg nicht zu schaffen“, pflichtet ihr Ehemann Rolf bei. Tageweise kann er von zu Hause aus arbeiten, konzentrieren könne er sich bei dem Trubel aber nur bedingt, gibt er zu. Weiterhin warte die Familie auf Leihgeräte, deren Bedarf bereits vor Monaten von den Schulen abgefragt worden sei. „Wenn alle Kinder gleichzeitig eine Video-Konferenz haben, müssen wir würfeln, wer an den Laptop darf“, sagt er lachend. Eigentlich sei das aber traurig, fügt er etwas leiser hinzu: „Wir müssen ausbaden, wo andere versagt haben. Für uns als kinderreiche Familie ist das ein wahrer Kraftakt und der Tiefpunkt der Pandemie: Nach knapp einem Jahr permanenten Jonglierens hat man allmählich das Gefühl, die Puste gehe einem aus; wir müssen viel Unzufriedenheit kompensieren.“
Im Frühjahr 2020 konnten viele Familien die unverhofften Zeitfenster und gemeinsamen Momente teilweise genießen, durchatmen angesichts ausgefallener Termine und weggebrochener Veranstaltungen. „Seit dem Kurswechsel der Politik und dem veränderten Bildungsauftrag der Schulen fühlen wir uns ziemlich allein gelassen“, sagt Vater Rolf: „Niemand fragt, wie etwa Alleinerziehende, Mehrlings- oder eben Großfamilien diesen inzwischen so lange andauernden Spagat schaffen, rund um die Uhr so viele verschiedene gleichzeitig Bedürfnisse zu erfüllen, die nicht zuletzt das Homeschooling mit sich bringt.“ Es interessiere niemanden, wo vielleicht Unterstützung nötig wäre oder differenziert werden müsste: „Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich ein zwei oder eben vier, fünf oder noch mehr Schulkinder am Schreibtisch sitzen habe. Nur die wenigsten von uns Eltern wollten wohl jemals Lehrer oder Psychologe werden – nun sind wir es schon viel zu lange, und die Durststrecke ist noch nicht zu Ende.“